Sachbücher im Buchhandel – Ein Interview

Es ist Sachbuch-Frühling bei NetGalley! Während wir und Sie viele spannende neue Sachbücher entdecken, wollen wir gleichzeitig einen Blick hinter die Kulissen werfen. Nicht nur das Schreiben, Verlegen, Vermarkten und Rezensieren von Sachbüchern nehmen wir genau unter die Lupe, sondern auch ihren Weg zu den Leser*innen. Fast jede Buchhandlung hat eine eigene Sachbuch-Ecke und – wie wir erfahren haben – oft auch eine*n Sachbuch-Beauftragte*n im Verkaufs-Team. Alex Bachler ist Buchhändlerin im Ocelot – Not just another Bookstore in Berlin und wurde uns dort als Expertin für Sachbücher vorgestellt. Wir haben ihr unsere vielen Fragen zum Thema Sachbücher im Buchhandel gestellt!

Hallo Alex! Stell dich doch am besten einmal kurz vor: Wer bist du, wie lange arbeitest du schon als Buchhändlerin und was liebst du an diesem Beruf?

Hallo! Danke für die Einladung zu diesem Gespräch. Mein Name ist Alex Bachler und ich bin seit fünf Jahren Buchhändlerin in der Buchhandlung ocelot in Berlin. Insgesamt arbeite ich seit fast 12 Jahren in diesem Beruf. Ich fühle mich sehr wohl in diesem Job, weil er für mich vielseitig und kulturell bereichernd ist. Zweimal im Jahr erscheinen neue Bücher auf dem Markt und ich bin dabei wenig festgelegt. Von unabhängiger Belletristik, Kinder- und Jugendbuch oder eben aus dem Sachbuch, kann ich mir immer das aussuchen, was mich gerade anspricht. Und natürlich ist auch der Kontakt mit der Kundschaft immer wieder neu und abwechslungsreich.

(c) Simone Hawlisch

Wieso interessierst du dich besonders für Sachbücher, was an ihnen zieht dich an bzw. schätzt du besonders?

Da muss ich vielleicht sogar etwas weiter ausholen: Ich habe mich in der Schule nie sonderlich für Fächer wie Geschichte, Geografie oder Politik interessiert, da sie an unserem Gymnasium vorwiegend aus dem stumpfen Auswendiglernen von Textblöcken und Daten, sowie ängstlichem Abgefragtwerden bestanden. Dabei war ich noch in der Grundschule allgemein sehr interessiert und wissbegierig und habe mein reich bebildertes Kinderlexikon ständig in der Hand gehabt.
Erst mit 21 habe ich zufällig entdeckt, wieviel ich aus Sachbüchern lernen kann. Es fing an mit Stefan Zweigs Biografie “Marie Antoinette”, aus der ich plötzlich sehr viel Geschichte und politische Zusammenhänge quasi nebenbei gelernt habe. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass man diese Themen auch ganz anders, nämlich erzählerisch, vermitteln kann, als durch bloße Auflistung von Jahreszahlen.
Durch mein Studium der Kulturwissenschaft und durch die Texte, die ich dafür bearbeiten musste, habe ich dann einmal mehr festgestellt, wie interessant und spannend persönliche Eindrücke und zeitliche, sowie räumliche Einordnung sein können. Und wie wichtig diese Quellen sind, um unsere (und andere) Gesellschaft(en) heute nachvollziehen zu können. Ich lese auch sehr gerne aktuelle Essays zu verschiedenen Themen, da ich solch einen kurzen Text dann auch mal gut unterwegs in der Bahn lesen kann.

Wie viele Sachbücher liest du im Monat / Jahr? Liest du in deinem Job als Buchhändlerin vieles auch nur an und nicht zu Ende?

Da wir im ocelot keine fest zugeteilten Abteilungen haben, lese ich natürlich auch noch Bücher aus anderen Sparten. Im Monat lese ich so etwa 2-3 Sachbücher, wobei ich da schmale Bände genauso mitzähle wie ein Buch mit 500 Seiten. Ich lese diese auch nicht immer (sofort) vollständig. Viele Sachbücher nehme ich dafür jahrelang immer wieder in die Hand und lese dann Passagen oder Aufsätze, die mich in dem Moment interessieren oder bewegen. Roland Barthes “Fragmente einer Sprache der Liebe” zum Beispiel habe ich zu Hause wirklich immer in griffbereiter Nähe liegen.

Du wurdest uns als Expertin für Sachbücher für das Interview empfohlen. Gibt es also eine klare Aufteilung unter den Buchhändler*innen, wer sich um welchen Bereich kümmert?

Wie gerade schon erwähnt, gibt es diese klare Einteilung bei uns nicht. Hinzu kommt, dass es ja auch im Sachbuchbereich sehr viele verschiedene Themenfelder gibt und wir uns das innerhalb der Warengruppe meist nochmal nach eigenem Interesse aufteilen. Ich interessiere mich zum Beispiel sehr für aktuelle gesellschaftliche und kulturwissenschaftliche Themen zu Klassen-, Rassismus und Genderfragen, Themen, die den ostasiatischen Raum betreffen und für Philosophie. Andere Kolleg*innen interessieren sich wiederum eher für Osteuropa oder sehr theoretische Philosophie. Das finde ich ja so wunderbar: Das Sachbuch ist mindestens so facettenreich und vielseitig wie die fiktionale Literatur.

(c) Simone Hawlisch

Wie groß ist der Sachbuch-Bereich bei Ocelot im Vergleich zur Belletristik?

Da wir eher auf die Belletristik ausgerichtet sind, fällt der Sachbuch-Bereich eher klein aus. Wir schätzen den Anteil auf etwa 1/5. Wegen der Platzfrage machen wir uns bei der Auswahl fürs Sortiment durchaus wohlüberlegte Gedanken. Wir haben eine Mischung aus aktuellen Sachbuchtiteln zu gesellschaftlichen Themen, Politik und Geschichte, sowie eine kleine Auswahl an allgemeiner Pädagogik und zum Thema Gesundheit. Seit einiger Zeit haben wir unsere Regalfächer für Bücher zur Anti-Diskriminierung und für feministische Themen ausgeweitet.

Hast du das Gefühl, es werden aktuell mehr Sachbücher gekauft als noch vor ein paar Jahren? Oder andersherum? Gibt es da eine merkbare Entwicklung?

Was sich definitiv verändert hat, ist die Verschiebung der Grenze zwischen Sachtext und Literatur. In den letzten Jahren hat die Zahl der nonfiktionalen Bücher, die sich aber “wie Belletristik anfühlen” spürbar zugenommen. Ich denke da an die Titel von Daniel Schreiber, Patti Smith oder natürlich auch aktuell den Gewinner des Deutschen Buchpreises “Herkunft” von Saša Stanišić. Ist das nun ein Roman? Ist es eine Autobiografie? Ganz ähnlich erging es mir außerdem mit Maggie Nelsons “Die roten Stellen”, ein Buch in dem historisches Zeitgeschehen, Autobiografie, True Crime, Medienkritik und Familiengeschichte sich bündeln. Vielleicht geht es vielen Lesenden so wie mir damals, dass sie gesellschaftliche Ereignisse gern anhand von individuellen Lebensgeschichten erfahren, die dennoch ein durchaus kollektives Empfinden beschreiben.

Welche Themen sind deinem Empfinden nach aktuell besonders gefragt?

Feministische Themen aller Art sind bei uns ebenso gefragt wie Bücher, um die allgemeine persönliche Lebenssituation zu verbessern.
Weiterhin stelle ich hier bei uns fest, wie relevant und aktuell ältere Essays plötzlich wieder geworden sind. Die Essays von Hannah Arendt, Umberto Eco, George Orwell und Theodor Adorno werden wieder verstärkt gelesen. Möglicherweise auch, weil sie durch ihre Kürze und den kleinen Preis ansprechen und weniger abschrecken, als ein dickes Hardcover, das eher “Arbeit” bedeuten kann. Bei uns sind auch ältere Texte Schwarzer Autorinnen wie bell hooks und Audre Lorde sehr gefragt und darauf aufbauend aktuelle Schwarze Autorinnen, wie Alice Hasters und Tupoka Ogette, die sich mit Rassismus in unserer Gesellschaft gedanklich auseinandersetzen.
Viele jüngere deutsche Autor*innen mit Migrationshintergrund fordern nun endlich Gehör und schreiben wichtige und kluge Texte über ihre Erfahrungen mit Diskriminierungen.

Wie gehst du vor, wenn du Kund*innen berätst, die sich für Sachbücher interessieren? Werden da auch Interessen abgeklopft und Empfehlungen ausgesprochen, oder kommen die meisten Kund*innen mit einer klaren Vorstellung davon, was sie kaufen möchten? Unterscheidet sich das vom Verkauf von Belletristik?

Ich gehe da tatsächlich ähnlich vor wie in Beratungssgesprächen zur Belletristik. Wenn ich weiß, welche Sachbücher zuletzt gefallen haben, kann ich mich da schon sehr dran orientieren. Soll es eher allgemein gut verständlich sein oder ist bereits ein gewisses Vorwissen zu einem Thema vorhanden und es darf schon etwas mehr in die Tiefe gehen. Für welche Themengebiete interessiert sich die Person überhaupt? Viele kommen aber auch und lassen sich selbst von unserem kuratierten Angebot inspirieren, weil sie uns bereits besser kennen und unserer Vorauswahl für unser Sortiment vertrauen. Unsere Kundschaft empfinde ich als sehr aufgeschlossen, wissensdurstig, aber auch entsprechend vorgebildet, daher haben wir teilweise auch ein bisschen speziellere Titel im Sortiment, die nicht überall im Stapel liegen.

Gibt es ein Sachbuch-Verkaufs-Erlebnis, das dir im Kopf geblieben ist (weil es lustig, absurd oder einfach besonders toll war)?

Ja, aber das war tatsächlich kein Verkaufserlebnis. Ich habe mich von Anfang an persönlich sehr stark gemacht für Tupoka Ogettes Buch “exit RACISM”, nicht zuletzt, weil es in einem unabhängigen Verlag erschienen ist und ich das Thema für immens wichtig halte. Zunächst habe ich mich generell gefreut, wie enorm gut das Buch bei unserer Kundschaft ankam und eines Tages stand die Autorin überraschend bei uns im Geschäft und wir haben ein schönes Gespräch geführt. Da war ich sehr gerührt und ein bisschen nervös. Aber es sind auch genau diese Momente, in denen ich spüre, wie sehr Bücher die Menschen zusammenbringen können.

Was empfiehlst du allen, die sich mehr mit nicht-belletristischen Büchern beschäftigen wollen – was ist ein guter Einstieg, wie sollte man vorgehen?

Alex im Einsatz!

Zunächst einmal: Schämt Euch nicht für Eure Interessen! Ich habe meinen Einstieg mit leicht lesbaren Habsburg-Biografien gefunden! Ein Roman zu einem bestimmten Thema, ob politisch oder historisch, kann oft einen leichteren ersten Einstieg geben als ein “echtes” Sachbuch.
Lesen ist kein Wettbewerb! Ich denke, eine übersichtliche, leicht geschriebene, Reclam-Einführung zu einem Thema zu lesen, ist ein guter Start, der Lust auf mehr machen kann. Das fühlt sich meist besser an, als ein dickes, voraussetzungsreiches Buch dann nach 100 Seiten frustriert und gelangweilt abzubrechen. Ich freue mich hier außerdem immer sehr, wenn Menschen einen ersten Schritt in ein neues Themengebiet wagen wollen und das auch offen und vertrauensvoll mit uns kommunizieren. Wir beraten da sehr gerne!

Was sind deiner Meinung nach aktuell die besten 2 Sachbücher, die du allen empfehlen würdest?

Ich empfehle derzeit gerne

“Unsichtbare Frauen” von Caroline Criado-Perez, übersetzt von Stephanie Singh, erschienen bei btb.
Das Buch gibt einen ebenso spannenden, wie erschreckenden ersten Einblick in viele verschiedene Bereiche unserer gestalteten Gesellschaft, in denen Frauen nicht mitgedacht werden, was zu einem Gesundheits- und Sicherheitsrisiko führt. Das Buch ist fundiert und verständlich geschrieben. Ich schreibe diese Zeilen gerade inmitten einer anhaltenden Pandemie, in der sich zeigt, wie vor allem Frauen in systemrelevanten Berufen die Gesellschaft weiter tragen und aufrechthalten.

“Wir Juden. Schriften 1932 bis 1966”, herausgegeben von Marie Luise Knott und Ursula Ludz, bei Piper.
In diesem Band sind sämtliche Texte chronologisch gesammelt, die Arendt über das jüdische Leben verfasst hat. Ich halte diese Schriften teilweise für noch immer sehr relevant und wichtig, um aktuellen Hass gegen die jüdische Bevölkerung zu verstehen. Nicht erst seit den jüngsten Anschlägen. Hannah Arendt befasst sich eindringlich mit der Geschichte des Judentums und auch, wenn die Texte womöglich etwas schwieriger zu lesen sind, kann ich diese Sammlung in Ruhe und sehr sorgfältig zu lesen.

Vielen Dank für das Interview!

Welche Erfahrungen haben Sie mit Sachbüchern in der Buchhandlung gemacht? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare!

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